Die Entzauberung der Piraten

Die Piratenpartei hat mit Bernd Schlömer ihren neuen Bundesvorsitzenden gewählt. Eine gute Gelegenheit, die Partei, die 29.000 Mitglieder vereint, näher zu betrachten.

Piraten sind Seeräuber. Sie verüben ausschließlich eigennützig Gewalttaten und unterliegen – nach eigenem Ermessen – keiner Staatsgewalt. Obwohl die Piraterie als Verbrechen international geächtet wird, assoziiert man mit ihr viel zu oft Abenteuer und Heldenmut im herrschaftsfreien Raum. Diese Verklärung scheint bei der aufstrebenden Partei Pate gestanden zu haben. Hoffentlich sind es nicht mehr Gemeinsamkeiten. 

Aufschluss gibt der Ehrenkodex der Piratenpartei. Ganze 18 Punkte, die man wahrscheinlich nicht allzu ernst nehmen sollte:

1. Piraten sind frei. Ausdrücklich wird hier Parteienzwang (und vermutlich auch Lobbyarbeit) abgelehnt. Klingt ja auf den ersten Blick ganz sympathisch. Der frei Abgeordnete sollte schließlich auch nur seinem eigenen Gewissen unterliegen. Soweit die Theorie.

Eine gewisse Fraktionsdisziplin hat jedoch seinen Sinn. Parteien setzen Interessen durch, im Idealfall die ihrer Wähler. Diese Arbeit ist nur dann effektiv, wenn sich eine einheitliche Linie innerhalb einer Partei erkennen lässt, quasi ein Kapitän an Bord ist. Die Partei muss sich demnach auf ihre einzelnen Abgeordneten und deren – voraussichtliches – Abstimmungsverhalten verlassen können. Das Abweichen vom parteiinternen Mainstream würde schließlich nur der Opposition in die Hände spielen und das Blockieren der Gesetzgebung erleichtern. Bis auf tiefgreifende Gewissensentscheidungen, etwa die Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik, ist die inoffizielle Beschränkung der Freiheit durch Sicherstellung einer einheitlichen Abstimmungsweise, in nicht allen Fällen erfreulich, aber durchaus rational.

2. Piraten handeln nur freiwillig. Ein Pirat lässt sich zu keiner Handlung zwingen, noch zwingt er andere Menschen und Piraten zu einer Handlung. Ein Pirat entscheidet in jedem Moment neu, ob er sich gegenüber einer eingegangenen Verpflichtung noch gebunden fühlt – auf der Basis von Freiheit und Verantwortlichkeit und nicht nach Laune.

Auch hier soll man den rebellischen Freiheitskämpfer, der niemandem Böses will und sich von den Zwängen der Bösen „da oben“ unterscheidet, erkennen. Der letzte Satz ist jedoch ein Widerspruch in sich. Pacta sunt servanda. Dieses, das deutsche Zivilrecht beherrschende Prinzip der Vertragstreue, gilt auch und gerade für Regierungsmitglieder und Abgeordnete, selbst wenn sie der Piratenpartei angehören. Entscheidet man „in jedem Moment“ neu, und sei es aufgrund noch so ehrbarer Motive, so muss man sich von der Rechtssicherheit, einem für den Bürger sehr hochwertigen Gut, recht bald verabschieden. Dieser Wankelmut kann sich nur graduell von Entscheidungen nach Laune unterscheiden.

3.Piraten leben privat. Sie legen hohen Wert auf ihre vom Grundgesetz garantierte Privatsphäre. Daher lehnen sie Überwachungsmaßnahmen, die die Privatsphäre einschränken ab, weil diese die freie Entfaltung der Persönlichkeit verhindern und demokratische Vielfalt beschneiden.

Stimmt wer will schon überwacht werden? In seiner Privatsphäre? Niemand. Das gibt Punkte bei unbescholtenen Bürgern ebenso wie bei Nazis und Islamisten. Aber gerade dieses Thema bedarf einer besonderen Differenzierung und ist für einen Pauschal-Kodex definitiv ungeeignet. Es gibt – leider – Bahnhöfe, die mit Kameras ausgestattet werden müssen und Computer, die durchleuchtet werden sollten. Eine Abwägung zwischen Gefahrenabwehr (staatliche Überwachungsmaßnahmen werden schließlich nicht aus Profitgier angeordnet) und informationeller Selbstbestimmung im Einzelfall sollte hier bevorzugt werden.

Unter privat subsumieren Piraten auch anonym. Sie plädieren unter diesem Punkt für die anonyme Beteiligung an der politischen Arbeit. Im Hintergrund die Fäden ziehen? Das gibt es doch schon. Wird nicht gerade das von den Piraten (Transparenz etwa bei der Verknüpfung von Wirtschaft und Politik) beklagt? Wie will man transparent und anonym arbeiten? Ist jemand, der für seine Arbeit nicht mit seinem guten Namen einsteht, überhaupt wählbar?

4. Piraten fragen nach. Sie denken, durchleuchten, differenzieren. Naja, mit Blick auf die bisherigen Punkte 1 bis 3 war hier wohl eher der Wunsch Vater des Gedankens. Ich erwarte nicht nur von Parteimitgliedern und Abgeordneten, dass sie „denken“, sondern von jedem meiner Mitmenschen. Zugegeben, man wird oft enttäuscht. Aber muss das Denken, Differenzieren und Durchleuchten tatsächlich expressis verbis betont werden?

Piraten fragen nicht nur nach, sie hacken Systeme „aber nicht sinnlos und respektlos“.

Dabei gehe es nicht um das Hacken im Sinne einer Zerstörung, sondern um das hehre Ziel, des Verstehens. Aha! Deutsche Sprache schwere Sprache. Einprägsame, moderne Wahlsprüche in „DEnglisch“ zu schöpfen, scheint noch schwierger zu sein. Seit wann kann man Verstehen und Zerstören in Zusammenhang bringen? „Hacker“ dringen unter Umgehung von Sicherheitsmechanismen und damit unerlaubt in Systeme ein. Diese Umgehung mag vereinzelt Sinn haben, etwa Eigennutz, ist aber regelmäßig respektlos. Ginge es außerdem nur um das „Verstehen“ eines Systems müsste man nicht von Sinn & Respekt sprechen, da diese Adjektive in diesem Zusammenhang nicht anwendbar sind.

5. Piraten sind erfinderisch und um ernst genommen zu werden, verzichten sie auf Esoterik. Also dieser Punkt spricht für sich selbst und erübrigt jedes weitere Wort.

6. Piraten fördern freies Wissen, Bildung und Kultur. Ja, die Politik dürfte in diesem Bereich ruhig mehr investieren. Hier kann man mitgehen, wenn die Finanzierbarkeit geklärt ist. An dieser Stelle geht es jedoch gerade um das Stichwort „Raubkopie“ und die Piraten wehren sich gegen den Vorwurf „Diebstahl geistigen Eigentums“ in Einklang etwa mit Tauschbörsen. Der Geldwert einer immateriellen Leistung wird zumindest heruntergespielt.

7. Piraten machen die Klappe auf. Ja, das sollten sie tatsächlich, wenn sie Interessen durchsetzen wollen. Muss dass wirklich kodifiziert werden?

8. Piraten sind fair. Aha – das Leben ist es nicht!

9. Piraten haben Achtung vor dem Leben.

10. Piraten sind friedlich.

Endlich Punkte über die ich mich freuen darf.

11. Piraten zeigen Zivilcourage. Man denke nur an die vielen Roten-Karten, als einer von ihnen heute vom „Weltjudentum“ sprach. Es kostet Mut, einfach so aus dem Saal zu gehen und Antisemitismus zu erkennen. Selbstverständlich scheint es nicht zu sein.

12. Piraten sind tolerant und gegen jede Diskriminierung. Unser GG auch.

13. Piraten sind keine Räuber. Aber eben nur, wenn es um materielle Güter geht. Bei Liedern, Texten, Melodien und Ideen bedienen sie sich schon ganz gern mit einem Download-Button.

14. Piraten sind keine Freeloader. Sie bedienen sich. Dabei möchten Sie keine Gegenleistung in Form eines Honorars erbringen, aber sie wollen die Schaffenden angemessen unterstützen. Wie geht das? Unterstützung statt Honorar? Und wenn der Zugang / Genuss frei für den Bürger sein soll, wer zahlt die Gunstbezeugung? Die Partei? Und wer zahlt, wenn die Piratenpartei regiert? Der Staat? Damit Kultur und Journalismus fortbestehen können?

15. Piraten denken auch an andere. Piraten zeigen Empathie und Solidarität, insbesondere für Minderheiten. Klingt gut, oder? Minderheiten wird eine tröstende Hand versprochen, damit sie nicht durch soziale Netze fallen. Beeindruckend wird hier der Wert einer „positiven Formulierung“ bei hässlichen Realitäten (Thema Integration?!) vorgeführt. Auf die Idee, dass sich Minderheiten ebenso verhalten können wie die Mehrheitsgesellschaft, scheint zwar keiner gekommen zu sein. Aber man darf sich nicht wundern. Schon die Urheberrechtsdebatte zeigt, dass der Pirat an sich ja den Zusammenhang zwischen Leistung und Lohn noch nicht ge“hackt“ hat.

16. Piraten denken, handeln und arbeiten global. Sie wollen bei der Lösung der drängendsten Probleme der Welt mitwirken. Chapeau!

Ach ja…. welche wären das denn? Armut, Hunger, Seuchen? Die Lage der verfolgten Christen in der Türkei? In arabischen Ländern oder dem Iran? Etwa die weltweite Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes? Die schwierige Lage der Frauen in …? Klein fängt man an, daher waren beim neuesten Parteitag die Toiletten nicht nach Männern und Frauen eingeteilt, sondern in solche „mit Pissoir“ und „ohne Pissoir“.

17. Piraten zerschlagen Gordische Knoten. Keep it simple and smart. Hört! Hört! Aber geht die Rechnung, Freiheit und Hilfe für jeden, immer und überall, und kostenfrei – wirklich auf? Ist es wirklich so „simple“?

18. Piraten suchen ihr Schiff. Es folgt ein Gedicht. Eines, welches Gefühle zu überbringen versucht, falls die Inhalte von 1-17 zu keiner Überzeugung geführt haben.

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Dirk Niebel und das Prinzip Selbstschuld

Maybrit Illner hat gestern eingeladen zum Thema Merkel und ihr schlechtes Personal. Eine Mischung aus Gästen, die wohl kaum etwas miteinander verbindet. Michael Spreng (Berater), Dirk Niebel (Entwicklungshilfeminister FDP), Michael Fuchs (CDU-Bundestagsfraktion) und Cem Özdemir (Grünen -Vorsitzender). Einziges Lichtlein: Afelia. Marina Weisband, Geschäftsführerin der Piraten. Auch wenn sie wirkte wie ein kleines Mädchen, dass von einem der anwesenden Erwachsenen lediglich mangels Babysitter mitgenommen wurde, war sie doch die einzige die Klartext sprach. Die ihr fehlende Dominanz und Erfahrung wird sie jedoch mit Sicherheit bald in grossen Schritten voranbingen. Wichtiger ist es mir, nah am Sendethema über das anwesende, schlechte Regierungspersonal mit Ministerposten, zu sprechen: Dirk Niebel von der FDP.

Ein Minister, der genau das Ressort beerbt, dass er abschaffen will. Er verfügt weder über eine menschliche Wärme, die ein Entwicklungsminister, also einer, der Hilfsbedürftige in aller Welt besucht, eingentlich haben sollte, noch über diplomatisches Geschick.  Man denke nur an die ihm verweigerte Einreise nach Gaza und seine medienwirksame Aufregung hierüber.

Aber er wollte ja auch nie Entwicklungsminister werden. Der Arbeitsmarkt ist seine Welt. Er war von 1998 bis 2009 arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP und in dieser Position im  Bundestagsausschuss. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme waren viele Jahre zentrale innenpolitische Handlungsfelder für Niebel. Die Maßnahmen zur Arbeitsförderung und der Arbeitslosenversicherung beschäftigten ihn hauptsächlich. Weil er jahrelange Erfahrung in diesem Bereich aufweisen kann, sollte man fundierte Kenntnisse erwarten dürfen.

Sein Verständnis des Arbeitsmarktes, so erschreckend es auch war, wurde nur mit einem kurzen Einwand der Moderatorin gewürdigt. Dabei wäre ein Aufschrei aller Beteiligten angemessen gewesen.

Nach Niebel sind die etwa 1,4 Millionen Aufstocker (Stand Sommer 2010) in Deutschland in ihrer finanziell schwierigen Situation, weil sie mit ihrem Einkommen zu grosse Familien unterhalten müssen. Nun wäre in einem Land, dass seit Jahrzehnten Kinderarmut beklagt, interessant zu erfahren, wie er auf diese Einschätzung kommt. Zugegeben Familien mit Migrationshintergrund haben im Durchschnitt mehr Kinder als Familien deutscher Herkunft und beziehen damit vielleicht auch mehr Leistungen. Die Ursache der Bedürftigkeit dürfte dort jedoch mehr mit der Integrationsproblematik in Zusammenhang stehen, als mit der Kinderzahl. Die Ausblendung der Wirtschaftsinteressen, die für bestimmte soziale Schichten einzige Arbeitsmöglichkeit „Mini-Job“, und die Tatsache, dass Aufstockung zwecks positiver Arbeislosenzahlen von der aktuellen Regierung durchaus gewollt ist, wird von Niebel vollständig ausgeblendet. Der Vater dreier Söhne behauptet tatsächlich, Schuld an der Finanznot sind die Väter und Mütter. Selbst schuld.

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